|
Wiedergabe
Getting your Trinity Audio player ready...
|
Zwischen Entlastungsversprechen und Realität – eine Analyse der Einkommensverteilung in Deutschland
Selten waren sich Union und SPD in einem Wahlversprechen so einig: Beide Parteien wollen die sogenannte „Mitte der Gesellschaft“ entlasten. „Wir entlasten vor allem Menschen mit niedrigen und mittleren Einkommen“, heißt es im Wahlprogramm der CDU/CSU. Die SPD verspricht, dass die arbeitende Mitte „mehr Netto vom Brutto“ behalten soll – während sie gleichzeitig Spitzeneinkommen stärker belasten will. Doch wer zählt eigentlich zu dieser oft zitierten Mitte? Und ab wann gilt man in Deutschland als „reich“? Das arbeitgebernahe Institut der deutschen Wirtschaft (IW) in Köln hat genau das untersucht – und liefert nun klare Zahlen.
Wie das IW die Mittelschicht definiert
Zur Mittelschicht zählt laut der neuen IW-Analyse ein Single, der über ein monatliches Nettoeinkommen zwischen 1.850 und 3.470 Euro verfügt. Dabei wird das sogenannte Haushaltsnettoeinkommen herangezogen – also alle Einkünfte eines Haushalts abzüglich Steuern und Sozialbeiträge. Das umfasst Löhne, Renten, Kapitalerträge sowie staatliche Transferleistungen wie Kindergeld. Auch der Nettomietwert selbstgenutzten Wohneigentums wird berücksichtigt.
Was ist das monatliche Haushaltsnettoeinkommen?
Das Haushaltsnettoeinkommen ist die Summe aller Einnahmen in einem Haushalt nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben. Dazu zählen Löhne, Einkünfte aus Selbstständigkeit, Mieten, Zinsen, Renten sowie staatliche Leistungen wie Arbeitslosengeld oder Kindergeld. Wer im Eigentum wohnt, profitiert zudem vom sogenannten Nettomietwert, also dem rechnerischen Wohnwert der eigenen Immobilie.
Das Medianeinkommen – der Maßstab für die Mitte
Das Medianeinkommen eines Singles liegt laut IW bei 2.312 Euro netto im Monat. Das bedeutet: Die Hälfte der Bevölkerung verdient weniger, die andere mehr. Im Gegensatz zum Durchschnitt ist das Medianeinkommen robuster gegenüber extrem hohen oder sehr niedrigen Werten – es spiegelt also realistischer wider, wo die „Mitte“ tatsächlich liegt.
Wer zählt zur Mittelschicht – und wer zu den Spitzenverdienern?
Laut IW gehören Singles mit einem Einkommen zwischen 80 % und 150 % des Medianeinkommens zur Mittelschicht. Das entspricht den genannten 1.850 bis 3.470 Euro netto. Als „reich“ gelten Personen, die mehr als das 2,5-Fache des Medianwerts verdienen – also mindestens 5.780 Euro netto im Monat. Nur rund vier Prozent der Bevölkerung erreichen dieses Niveau.
Doch die Grenzen variieren stark je nach Haushaltsgröße: Ein Alleinerziehender mit einem Kind zählt erst ab 2.400 Euro zur Mittelschicht, während eine Familie mit zwei Kindern zwischen 3.880 und 7.280 Euro netto im Monat verdienen muss, um dazuzugehören. Ab einem Einkommen von rund 12.140 Euro gilt sie als einkommensreich.
Bedarfsgewichtetes Einkommen – warum nicht jeder Euro gleich viel zählt
Das IW arbeitet mit dem sogenannten bedarfsgewichteten Haushaltsnettoeinkommen (oder Nettoäquivalenzeinkommen). Diese Methode berücksichtigt, dass Paare und Familien geringere Lebenshaltungskosten pro Kopf haben als Singles. Das Gesamteinkommen wird durch eine „bedarfsgewichtete“ Zahl der Haushaltsmitglieder geteilt. Der erste Erwachsene erhält den Faktor 1, der zweite 0,5 und jedes Kind unter 14 Jahren 0,3. So hat ein Paar ohne Kinder denselben Lebensstandard wie ein Single mit 1,5-fachem Einkommen.
Armut, Reichtum und der Faktor Erwerbstätigkeit
Als armutsgefährdet gilt laut IW, wer weniger als 60 Prozent des Medianeinkommens erzielt – rund 15 Prozent der Bevölkerung fallen in diese Kategorie. Unter den Vollzeiterwerbstätigen beträgt das Medianeinkommen 2.756 Euro, wodurch das Risiko sinkt. Sind in einer Familie beide Partner erwerbstätig, liegt das Armutsrisiko nur bei vier Prozent – bei kinderlosen Paaren sogar bei drei Prozent. Mieter sind dagegen deutlich stärker betroffen, während Eigentümer mit nur fünf Prozent Armutsgefährdung wesentlich sicherer dastehen.
Auf welchen Daten basiert die IW-Analyse?
Die Ergebnisse stützen sich auf die Daten des EU-SILC (Erhebung über Einkommen und Lebensbedingungen), die in Deutschland Teil des Mikrozensus ist. Die repräsentative Stichprobe umfasst rund 73.000 Personen in 36.000 Haushalten und bildet die Einkommenssituation des Jahres 2022 ab. Diese Zahlen gelten als Referenzwert für die aktuelle Einkommensverteilung in Deutschland.
Fazit: Deutschlands Mitte bleibt groß – aber unter Druck
Die Studie zeigt deutlich: Die deutsche Mittelschicht ist zahlenmäßig stabil, aber ökonomisch unter Druck. Hohe Lebenshaltungskosten, steigende Mieten und eine ungleiche Vermögensverteilung sorgen dafür, dass sich viele „Mittelschichtshaushalte“ kaum als solche fühlen. Zugleich wächst die Gruppe der Armutsgefährdeten, während der Anteil der Spitzenverdiener klein, aber konstant bleibt. Die politische Forderung nach Entlastung der Mitte ist also mehr als ein Wahlkampfslogan – sie betrifft über die Hälfte der Bevölkerung.
Tipp für Leserinnen und Leser
Wer wissen möchte, wo das eigene Einkommen im Vergleich steht, kann den IW-Einkommensrechner nutzen. Das Tool zeigt, ob Sie statistisch zur Mittelschicht, zu den Besserverdienenden oder zu den unteren Einkommensgruppen zählen – und wie sich Ihr Einkommen im Verhältnis zu Familiengröße und Wohnsituation einordnet. Hier geht´s zum IW-Einkommensrechner.
FAQ – Häufige Fragen zur Mittelschicht und Einkommensverteilung
Warum unterscheiden sich die Einkommensgrenzen zwischen Singles und Familien?
Weil Haushalte mit mehreren Personen Kosten teilen können, benötigen sie weniger Einkommen pro Kopf, um denselben Lebensstandard zu erreichen. Das wird über das bedarfsgewichtete Einkommen berücksichtigt, bei dem Familienmitglieder unterschiedlich gewichtet werden.
Was bedeutet „Medianeinkommen“ im Vergleich zum Durchschnittseinkommen?
Das Medianeinkommen teilt die Bevölkerung in zwei Hälften: Eine verdient mehr, die andere weniger. Es ist weniger anfällig für statistische Ausreißer als der Durchschnitt, der durch sehr hohe Einkommen nach oben verzerrt werden kann.
Warum wächst die Mittelschicht trotz Wirtschaftswachstum nicht stärker?
Steigende Lebenshaltungskosten, Mieten und Energiepreise kompensieren bei vielen Haushalten Einkommenszuwächse. Zudem profitieren hohe Einkommen überproportional von Kapitalerträgen und Vermögenszuwachs, während mittlere Einkommen oft kaum Vermögen aufbauen können.